Sie ist die populärste Frau der Bibel. In den kanonischen Schriften nimmt sie eine relevante Stellung ein. Sie stellt eine zentrale Figur von Frömmigkeitskulten dar, ist wesentlicher Teil der Literaturgeschichte, tausendfach vervielfältigt in der abendländischen Kunst, tritt auch in der Filmwelt auf und ist von Interesse für aktuelle feministische Diskurse. Sie ist Vorbild für verklärte Unschuld, Keuschheit, Jungfräulichkeit und als Mutter Jesu zugleich für Mütterlichkeit. Sie ist eine der Frauen am Kreuz und steht zusammen mit den Jünger:innen am Beginn des Christentums. Für die christliche Glaubens- und Deutungsgeschichte ist Maria jedoch nicht von Beginn an derart präsent. Erst im zweiten Jahrhundert wird ihre Beteiligung an der Frohen Botschaft von größerer Bedeutung. Für die modernen Religionswissenschaften wird deutlich, dass sich die Entstehung des Christentums und das Hören der Frohen Botschaft auf die Mutter des Menschensohnes stützt. Wer war diese Frau, die uns heute so still, fromm und selbstlos erscheint? Wie hätte die Geschichte des Christentums ohne ihr „Ja“ zum Wirken Gottes ausgesehen? Im Matthäusevangelium wird Maria als eine der wenigen Frauen des Judentums hervorgehoben, die in der patrilinearen Erbfolge von Männern auftritt. Nicht von Josef, sondern „aus der heiligen Geistkraft“ (Mt 1,18) wird sie schwanger. Ihre Empfängnis ist kein passives Annehmen von tradierten Vorstellungen, sondern eine eigenständige Willensaussage als mutige Teilhabe in ihrem personalen Verhältnis zu Gott.
Inga Tretjakow